
Les Grands Moulins de Paris (2009)
Frühjahr 2009. Gemeinsam mit dem Spurensammler stehe ich vor einem wuchtigen Monolith aus Beton, Stahl und Geschichte: der ehemalige Getreidespeicher der Grands Moulins de Paris in Lille. Von außen wirkt das langgestreckte Gebäude wie ein Relikt aus einer industriellen Epoche, in der Größe noch ein Qualitätsmerkmal war. Hohe Fassaden, klar strukturierte Fensterachsen, ein Baukörper, der sich mit aller Macht gegen das Vergessen stemmt.
Doch kaum betreten wir das Gelände, bröckelt der erste Eindruck – im wahrsten Sinne des Wortes. Müll, Vandalismus, Brandspuren. Die sieben Etagen sind durchzogen von Zerstörung und Verfall. Im westlichen Flügel existieren keine Böden mehr. Nur das rohe Betongerippe bleibt – und der Blick in sieben Etagen Leere. Wer hier nicht aufpasst, endet schneller im Erdgeschoss als geplant.
Trotzdem – oder gerade deshalb – liegt in diesem Ort ein Reiz, dem man sich schwer entziehen kann. Vorsicht ist Pflicht, ja. Aber genau das gehört zum Spiel.
Die Grands Moulins de Paris sind ein bedeutender Lebensmittelkonzern in Frankreich und den Benelux-Staaten. Vom Getreideanbau bis zum fertigen Mehlprodukt: alles in einer Hand. Dieser Speicher war Teil eines gigantischen Netzes von Lagerung, Weiterverarbeitung und Verladung. Die Infrastruktur spricht Bände – im Süden verläuft eine alte Bahntrasse, im Osten grenzt das Gelände an den ehemaligen Hafen. Alles auf Effizienz ausgerichtet. Heute: alles Geschichte.
Ich arbeite mich über schmale Betontreppen nach oben. Der östliche Teil des Komplexes ist moderner, wohl aus den späten 80ern. Hier wirkt alles etwas strukturierter, fast zivilisiert – wären da nicht die kaputten Fenster, die Graffitis und das leise Rascheln von irgendetwas, das sich in einem Nebenraum bewegt. Vielleicht ein Fotograf. Vielleicht auch jemand, der nicht entdeckt werden will.
Oben angekommen, finde ich die Füllöffnungen der Getreidesilos. Große runde Öffnungen im Boden, durch die früher tonnenweise Korn floss. Heute fliegt nur ein Stein – aus meiner Hand. Ich lasse ihn fallen. Es dauert lange, bis er scheppernd irgendwo tief unten aufschlägt. Ein düsteres Echo. Und ein Gedanke, den man sich besser verkneift: Wer hier fällt, wird nicht so schnell gefunden. Nachtwanderung gefällig?
Trotz meiner Skepsis gegenüber Graffiti finde ich hier einige gelungene Werke – kreativ, detailverliebt, in absurdem Kontrast zur Tristesse des Ortes. Zwischen rostigen Maschinen und bröckelnden Wänden haben sich Künstler ihren Platz erobert. Manche kommen mit Models. Andere mit… weniger freundlicher Ausstrahlung. Die Mühle ist kein Ort der Einsamkeit. Sie hat ihr Publikum.
Die Mühle wurde vermutlich in den 90ern stillgelegt. Und seither passiert hier das, was an solchen Orten immer passiert: Die Zeit schreitet weiter, aber der Ort bleibt stehen. Und wir – Urban Explorer, Fotografen, Neugierige – versuchen, die wenigen Momente aufzufangen, bevor auch der letzte Betonträger nachgibt.

















































