
Das Haus der alten Dame (2012)
Ein Spaziergang durch einen bürgerlichen Stadtteil in Bochum. Reiheneinfamilienhäuser, gepflegte Vorgärten, das leise Rauschen des Alltags. Menschen gehen hier täglich vorbei, schauen nicht mehr hin – vielleicht, weil sie es nicht mehr sehen können. Und doch bleibt mein Blick an einem unscheinbaren Haus hängen. Etwas stimmt hier nicht. Der Lack ist stumpfer, der Briefkasten überquillt nicht mehr, weil ihn niemand mehr leert.
Und dann: Eine Tür. Unverschlossen. Seit Jahren.
Für die meisten bedeutungslos.
Für mich: ein Signal.
Seit vielen Jahren steht dieses Haus leer. Es gehörte einmal einer älteren Dame, so viel ist schnell klar. Ein leeres Krankenbett im Wohnzimmer, ein Notruftelefon, alte Pflegeunterlagen. Jemand war hier sehr krank. Und ging.
Im Erdgeschoss scheint die Zeit in den frühen 1980er Jahren stehen geblieben zu sein. Die Möbel sind schlicht, braun und beige. Überall liegen Fotos, viele lose, einige eingerahmt. Auf mehreren erkenne ich sie – die alte Dame. Ihr Blick freundlich, aufrecht. Alleine.
Das Obergeschoss wirkt wie ein Relikt aus einer noch früheren Epoche. Vielleicht haben hier einst die Kinder gewohnt, bis sie auszogen, irgendwann in den späten 60ern? Die Einrichtung erzählt davon: klassische Möbel, florale Tapeten, ein alter Schwarz-Weiß-Röhrenfernseher, Gardinen, die eher trösten als dekorieren.
Während ich im Erdgeschoss noch zögere, fühle ich mich oben freier. Der Raum lässt mich atmen. Und dann führt mich eine knarrende Treppe auf den Dachboden – und hier verändert sich alles.
Ein ganzes Leben liegt hier. Kisten voller Unterlagen, Fotoalben, Kartons mit Erinnerungen, sorgfältig verpackt, aber niemals entsorgt. Ich sehe Rechnungen, Urkunden, Geburtstagskarten. Briefe. Friseurwerkzeug, Büromaterial, eine alte Schreibtischlampe. Ein Archiv der Vergangenheit, ungeordnet und ehrlich.
Es erinnert mich an meinen Fund in der Psychiatrie Salve Mater – ähnlich dicht, ähnlich voll, ähnlich still.
Der Dachboden erzählt von einem Leben nach dem Krieg. Der Ehemann, wie ich später aus Unterlagen erfahre, kam als junger Mann zurück und arbeitete bei der Eisenbahn. Nebenbei: kaufmännische Fortbildungen. Am Ende kümmerte er sich um die Buchführung des eigenen Friseursalons. Sie führten ihn gemeinsam – bis er starb. Und wenige Jahre später folgte sie ihm.
Hier wurde nicht vergessen. Nur nicht abgeholt.
Die Sonne steht tief, wirft ein warmes, goldenes Licht auf den alten Teppich im Flur. Staub tanzt, als hätte er darauf gewartet. Es ist spät geworden. Zeit zu gehen.
Ich nehme nichts mit. Nur die Gewissheit, dass Erinnerung in Räumen lebt – und manchmal nur darauf wartet, noch einmal gesehen zu werden.
Update 07/2014: Ich erhalte eine eMail von Marie, die das Haus der alten Dame aufgesucht hat. Sie schreibt: "Ich mag dir erzählen, wie schrecklich sich der Zustand in dem Haus der alten Dame verändert hat. Es ist kaum zu fassen, wie Vandalismus etc. die schönen Erinnerungen an die Frau und deren Familie und Leben vollkommen zerstört haben. Es wurde alles aus den Wänden gerissen, zerstört, besprüht und sogar angepisst. Im Erdgeschoss ist kein Durchgang möglich, überall liegen zerstörte Stücke der ehemaligen Einrichtung. In dem ganzen Chaos konnten wir lediglich ein paar Dinge herausziehen, die uns sehr fasziniert haben: Fotos, Postkarte, Rechnungen und Kleidung, alte Einrichtungsgegenstände und ein paar Schuhe. Das alte Schlafzimmer in der ersten Etage wurde wohl zum Nachtlager ein paar Jugendlicher hergerichtet. Dort findet sich auch ein ein Stückchen Boden, das wohl als Toilette benutzt wird. Ich finde es unheimlich schade, wie man die Hinterlassenschaften einer Person so wenig respektieren und schätzen kann. Wir waren erschüttert über den Zustand und enttäuscht, dass wir kaum etwas von dem Flair der damaligen Zeit mitnehmen konnten."
Weiterführende Link:
"Die verlassene Orte"









































