
Tannenklinik (2012)
Tief im Sauerland, umgeben von dichtem Grün, liegt die Tannenklinik. Ein stattliches Gebäude aus dem Jahr 1904, errichtet mit dem Anspruch, Heilung zu ermöglichen – nicht nur medizinisch, sondern ganzheitlich, mit Zeit, Raum und Ruhe. Die Klinik war spezialisiert auf die Betreuung von Tumorpatienten, ein Rückzugsort für Körper und Seele.
Doch selbst Orte der Heilung sind nicht unverwundbar.
2008 wurde ein Insolvenzverfahren eröffnet. Der Betrieb konnte nicht aufrechterhalten werden – trotz Spezialisierung, trotz Tradition. Schon 2009 wurden die Türen für immer geschlossen. Seitdem schläft die Tannenklinik ihren Dornröschenschlaf – still, aber nicht geschützt.
Das Hauptgebäude, durch moderne Anbauten ergänzt, wirkt von außen noch immer gepflegt. Groß, würdevoll, fast ehrfurchtgebietend. Doch der Schein trügt. Neben der Klinik selbst gehören zum Areal ein großes Maschinen- und Kesselhaus, dazu mehrere Wohngebäude – Relikte einer kleinen medizinischen Welt, die sich heute selbst überlassen ist.
Wie so oft bin ich zu spät. Der Verfall hat sich eingenistet, aber nicht allein. Vandalismus hat längst seine hässlichen Spuren hinterlassen. Türen aufgebrochen, Fenster eingeschlagen, Inventar zerschlagen. Graffiti auf weißen Wänden, die einmal Beruhigung ausstrahlen sollten. Innen sieht die Klinik nicht mehr nach Genesung aus – sondern nach Verwahrlosung.
Offenbar hat auch die Polizei diesen Wandel erkannt. Es heißt, Streifenfahrten seien keine Seltenheit mehr. Ein Wachdienst sei arrangiert – ein Versuch, das Schlimmste zu verhindern. Doch bei meiner erlaubnisfreien Begehung bleibe ich über Stunden ungestört. Kein Mensch, kein Auto, kein Ton. Nur knarzende Böden, klappernde Reste und ein Ort, der leise zu flüstern scheint: Ich war einmal wichtig.
Und dann entdecke ich etwas, das mich mehr erschreckt als jeder eingestürzte Dachstuhl:
Patientenakten.
Offen zugänglich. Namen, Diagnosen, Adressen. Lieblos gestapelt, achtlos zurückgelassen. Manche liegen auf dem Boden, andere sind noch säuberlich einsortiert in Regalen, als warte jemand darauf, weiterzublättern. Nur dass hier niemand mehr liest – nur zerstört.
In einer Zeit, in der Datenschutz mit einer Mischung aus Misstrauen und Ernsthaftigkeit behandelt wird, ist das, was ich dort sehe, ein Skandal in Papierform. Menschen, die einst vertrauensvoll Hilfe suchten, sind nun öffentlich ausgestellt – wehrlos, selbst nach ihrem Tod.
Die Tannenklinik ist heute kein Ort des Heilens mehr. Sie ist ein Denkmal für das, was nicht mehr funktioniert hat – medizinisch, organisatorisch, gesellschaftlich. Und ein Ort, der nicht nur verfallen ist, sondern verletzt.
Nicht nur sich selbst. Sondern auch die, die ihm einst vertraut haben.







































































